Nach zähen Verhandlungen und langem Ringen um Kompromisse haben sich die Vertreter des Europaparlaments und der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf eine grundlegende Reform der gemeinsamen Regeln für Haushaltsdefizite und Staatsschulden geeinigt. Diese Einigung markiert einen Wendepunkt in der EU-Finanzpolitik und verspricht, den Stabilitäts- und Wachstumspakt signifikant zu verbessern, indem effektive und anwendbare Vorschriften für alle EU-Länder geschaffen werden. Der belgische Finanzminister Vincent Van Peteghem betonte im Namen der belgischen EU-Ratspräsidentschaft, dass diese Reform den Pakt erheblich stärken wird.
Die Essenz der Reform: Flexibilität trifft Verantwortung
Im Kern der Reform steht die Absicht, die individuelle Lage der Mitgliedstaaten stärker zu berücksichtigen, ohne dabei das Ziel einer soliden Haushaltspolitik aus den Augen zu verlieren. Besonders für hoch verschuldete Länder werden klare Mindestanforderungen für die Rückführung ihrer Schuldenstandsquoten festgelegt, was einen ausgewogenen Spagat zwischen notwendiger Flexibilität und gebotener Disziplin darstellt.
Bisher galt in der EU die Regel, dass der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten und das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des BIP bleiben sollte. Diese Vorgaben wurden allerdings aufgrund ihrer rigiden Anwendung und den komplexen Rahmenbedingungen kritisiert, besonders im Lichte der Corona-Krise und der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Neue Schutzvorkehrungen und Anpassungsmöglichkeiten
Um die Vorhersehbarkeit und Fairness der Vorgaben zu verbessern, führt die Reform zwei wesentliche Schutzvorkehrungen ein: eine zur Schuldentragfähigkeit und eine zur Defizitresilienz. Diese sollen sicherstellen, dass Mitgliedstaaten ihre Schulden in einem angemessenen Tempo abbauen und gleichzeitig in Krisenzeiten über ausreichende finanzielle Puffer verfügen.
Ein weiteres Novum ist die Möglichkeit für die EU-Kommission, im Übergangszeitraum den Anstieg der Zinszahlungen bei der Berechnung der erforderlichen Anpassungsanstrengungen zu berücksichtigen. Mitgliedstaaten, die glaubhafte Reform- und Investitionspläne vorlegen, können zudem eine Verlängerung des Zeitraums zur Schuldenverringerung erwirken.
Gemischte Reaktionen auf die Einigung
Die Einigung stieß auf ein breites Spektrum von Reaktionen. Während die SPD-Europaabgeordneten Joachim Schuster und Gaby Bischoff den Kompromiss begrüßten und die reduzierte Verpflichtung zum Schuldenabbau sowie die erweiterten Handlungsspielräume hervorhoben, sah der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber darin einen Schritt zurück zu einer verantwortungsvollen EU-Haushaltspolitik. Kritische Stimmen, wie die des Fraktionsvorsitzenden der Linken im EU-Parlament, Martin Schirdewan, brandmarkten die festgelegten Ziel- und Schwellenwerte hingegen als „Irrsinn und Willkür“.
Ausblick: Ein Weg zur Ratifizierung
Bevor die Reform in Kraft treten kann, bedarf es noch der Bestätigung durch den EU-Ministerrat und das Plenum des Europaparlaments. Obwohl dies in der Regel als Formsache gilt, spiegelt der Prozess die Bedeutung wider, die der Reform für die Zukunft der EU-Finanzpolitik beigemessen wird. Es steht außer Frage, dass die neuen Regeln die Art und Weise, wie die EU-Staaten mit ihren Haushaltsdefiziten und Staatsschulden umgehen, nachhaltig verändern werden. Der Weg dahin war nicht einfach, aber das Ergebnis ist ein Zeugnis für die Fähigkeit der EU, Kompromisse zu finden und sich an veränderte Umstände anzupassen.